Donnerstag, 14. Juni 2012

Agenda: Der europäische Flüchtlingsschutz wartet auf rechtmäßige Organisation

Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) macht deutlich, dass die europäische Flüchtlingspolitik grundlegend verändert werden muss. Der EGMR hat der Grenzschutzstrategie vorverlagerter Migrationskontrollen eine klare Absage erteilt. Eine PDF-Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte macht darauf aufmerksam und erläutert die Probleme (Download siehe weiter unten).  Wir zitieren daraus: 

Nach der wegweisenden Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs vom 23. Februar 2012 ("Hirsi und andere gegen Italien") müssen der europäische Flüchtlingsschutz neu geregelt und die menschenrechtlichen Verpflichtungen stärker beachtet werden.

Es ist derzeit ein zentrales Element europäischer Migrationskontrolle, dass Flüchtlinge auf Hoher See abgefangen oder aufgegriffen werden, um sie daran zu hindern, die Außengrenze oder das Staatsgebiet von Mitgliedstaaten zu erreichen. Eine solche Praxis kann durch einzelne Mitgliedstaaten erfolgen oder auch
durch gemeinsame Einsätze der Mitgliedstaaten, etwa im Rahmen von Einsätzen unter Beteiligung der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Das
bestehende europäische Regelungswerk zu FrontexEinsätzen lässt grundsätzlich Maßnahmen zu, nach denen die am Einsatz Beteiligten die Kontrollgewalt über Flüchtlingsboote und ihren Kurs auf hoher See übernehmen.

Nach der Entscheidung des EGMR ist nun klar, dass solche Maßnahmen gegen den menschen- und flüchtlingsrechtlich verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen und die entsprechenden Rechte der Betroffenen aus der EMRK verletzen. Die Staaten sind in ihrem Handeln nicht erst dann an die Konvention gebunden, wenn Flüchtlinge die Außengrenzen oder das Territorium eines Staates erreicht
haben. Entscheidend ist vielmehr, dass die Staaten Hoheitsgewalt ausüben, wenn sie Schiffe einsetzen und die Flüchtlinge auf Hoher See daran hindern, ihre
Rechte aus der EMRK geltend machen zu können.

Die Entscheidung hat sowohl Bedeutung für die Rechtssetzungsorgane der EU als auch für die Mitgliedstaaten. Der menschen- und flüchtlingsrechtlich verbriefte Grundsatz der Nichtzurückweisung ist nach der Entscheidung des EGMR auch auf Hoher See zu beachten.Die EU muss die menschenrechtlichen Verpflichtungen beim Schutz der gemeinsamen EU-Außengrenzen klar europarechtlich regeln. Zugleich müssen Mandat und Ausrichtung der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf den Prüfstand gestellt werden. Sofern nicht eindeutig und effektiv gewährleistet ist, dass die Garantien der EMRK eingehalten werden, sollten die Mitgliedstaaten jegliche Unterstützung und Beteiligung an Frontex-Einsätzen einstellen.

Das Urteil steht in einer Reihe jüngerer Entscheidungen, in denen der EGMR – wie auch der EuGH - die Mitgliedstaaten der EU auf ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen hingewiesen hat. Ein zentrales Problem im Rahmen der europäischen Flüchtlingspolitik besteht darin, dass Staaten mit südlichen EU-Außengrenzen gegenwärtig stärker durch Migrationsbewegungen und die Prüfung von Asylanträgen herausgefordert sind als Staaten ohne EU-Außengrenzen. Zugleich sind die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge aufgenommen werden, in
einigen dieser Staaten menschenunwürdig.

Diese Situation wird dadurch verschärft, dass es EU-intern an politischem Willen mangelt, ein solidarisches System zu schaffen, das eine ungleich höhere Belastung geografisch am Rand der EU gelegener Staaten ausgleicht. Dazu müsste auch die Dublin II-Verordnung reformiert werden, nach der in erster Linie der Staat für die Prüfung eines Asylbegehrens zuständig ist, in dem eine Person erstmals das Territorium der EU betreten hat.

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